literature

Ich hasse Rot.

Deviation Actions

Wortakrobatin's avatar
Published:
298 Views

Literature Text

Ich will dir helfen, deine Hand nehmen, sie fest drücken, dich wieder zurück ins Leben katapultieren, auch wenn es vielleicht am Anfang weh tun wird. Aber es wird besser werden. Du wirst lernen, dass du es wert bist, deine Zeit in unserer grauen Welt zu genießen und wer weiß: Möglicherweise gelingt es dir, sie für dich bunter zu machen? Jedoch ist die beste Hilfe nichts wert, wenn die Person, die sie annehmen soll, behauptet, sie nicht zu brauchen und alleine klarzukommen.

„Kommst du denn klar?“, frage ich dich in einer ruhigen Minute und du siehst mich nicht an.

„Ja, sicher. Es ist alles gut. Bald hab‘ ich Urlaub“, sagst du an deiner Zigarette ziehend und bläst den Rauch in die Dunstabzugshaube. Als ob dein baldiger Urlaub eine Begründung dafür wäre, dass du klarkommst. Du weißt genau, dass ich etwas anderes meine und sage ich dir daraufhin auch.
Du legst den Kopf etwas schräg, klopfst leicht mit der Kippenspitze gegen den Rand des Aschenbechers, ehe du mich mit einem geheuchelten Lächeln ansiehst.

„Es ist doch alles in Ordnung.“

„Dort steht wieder eine halbleere …“

„Weißt du eigentlich schon, was du dir zu Weihnachten wünschst?“, unterbrichst du mich schnell und fegst ein paar Krümel auf der Fläche der Küchenarbeitsplatte zusammen. Deine Hände sind stark vernarbt von der harten Arbeit, die du beim Einräumen von großen, kantigen Regalen machst. Da sind schon wieder neue Kratzer und deine Haut heilt sehr schlecht und furchtbar langsam noch dazu.

Ich schüttele den Kopf, puste den Rauch etwas beiseite, der nach diesem Tag sowieso in jede einzelne Masche meines Pullovers gekrochen sein wird, und lehne mich gegen den Schrank. Ich will kein Geschenk. Nicht von dir. Es sei denn es beinhaltet, dass du dich endlich öffnest, dich endlich traust die Hilfe anzunehmen, die du so dringend brauchst.

„Du weißt, was ich mir wünschen würde“, sage ich halblaut und einen Moment lang siehst du mich schuldbewusst an, wirst ganz klein, lässt die Schultern hängen, gewährst mir einen winzig kleinen Einblick auf deine geschundene Seele. Aber nur kurz. Dann ist da wieder die Maske der Gleichgültigkeit, das geheuchelte Lächeln und die Abwehrhaltung.

„Ich hab da neulich einen japanischen Ahorn gesehen, der hat dir doch schon immer gefallen.“

Ich seufze innerlich. Nein, ich bräuchte schon eine Abrissbirne für deine Mauer.

„Schlechte Jahreszeit zum Bäume pflanzen“, sage ich nur und ersticke damit den letzten Keim der Hoffnung in mir, dass du mich jemals in dich hinein lässt, damit ich lernen kann, dich zu verstehen. Wenn du mich so ansiehst, dann bist du wie eine leere Hülle, ein Gefäß, das einst eine Seele, Gefühle, eine Geschichte gehabt hat. Aber da muss mehr sein. Bestimmt ist dort etwas, ich will es so gerne glauben. Hast du denn jeglichen Charakter aus dir heraus gespült?

Ich drehe mich um, gehe zum Durchgang, der in den Essbereich führt und lehne mich in den Türrahmen. Unauffällig schiele ich nach rechts in die Ecke, wo der bestimmt zwanzig Jahre alte, schmutzig-weiße Korb steht. Der Rote darin ist wirklich nur noch halbgefüllt. Als ich gestern ging, befand sich dort bereits eine beinahe leere Flasche. Hast du dich vielleicht wirklich weggepült? Dich, dein ganzes Selbst, durch diese rote Flüssigkeit ersetzt?

„Schau mal, das Prospekt hier. Dort haben sie ganz günstigen Weihnachtsschmuck … in bordeaux …“, höre ich hinter mir, aber du hast ohnehin nicht mehr alle Kugeln am Weihnachtsbaum um zu merken, dass unser diesjähriges Fest nicht mehr als eine Scharade sein wird, eine Aufführung, ein Theaterstück, eine einzige Heuchelei.

Dann eben mit neuem Christbaumschmuck in bordeaux als Requisiten. Rot. Wie dein Wein.
Jap,... ich hasse Rot.
© 2013 - 2024 Wortakrobatin
Comments14
Join the community to add your comment. Already a deviant? Log In
lucyfire71's avatar
Bedrückend. Und schmerzlich...
Die Personen scheinen sich sehr nah zu stehen.
Und doch sind sie emotional weit von einander entfernt :cries:

Der Alkohol tut sein Übriges dazu *seufz*
Es ist für alle Parteien nicht einfach...

Eine Geschichte, die mich schmerzlich berührt hat! :hug: